eine glänzende rüschenjacke aus kunstseide in einem leuchtenden kirschrot. in gleicher farbe eine rose am revers. ton in ton auch die knöchellangen leggings und die mandarina-duck-tasche auf den knien. alles andere ist in strahlendem weiß gehalten: bluse, armbanduhr, schuhe (knöchelsandalen nietenbesetzt). strass glitzert von ohrclips, fingerringen und an der uhr. wie kirschen leuchten auch die lippen. die haare sind schwarz gefärbt. grau schimmert an den ansätzen durch. die brauen sind in einem kühnen schwung gezupft und schwarz nachgetuscht. die augen sind grau und blicken etwas traurig.
kein make-up der welt könnte es noch schaffen, ihre falten wegzuschminken. besonders der hals verrät ihr alter. ich schätze sie auf etwa 65 jahre. sie sitzt mir gegenüber in der s-bahn. es ist 10 uhr morgens. sie liest einen groschenroman marke liebesschnulze.
was für ein film, der da abläuft! ist sie unterwegs zu einem date? chattet sie nacht für nacht in den einschlägigen internetportalen und trifft sich morgens mit ihrem gigolo d’amour zum stelldichein in einem hotel, das die zimmer stundenweise vermietet? oder ist sie auf der jagd? ist sie gerade auf dem weg, sich ein williges opfer für einen mittäglichen zeitvertreib zu suchen? ich mutmaße, sie ist unterwegs ins café keese. aber machen die schon am vormittag auf? sex im alter ist sicherlich oft keine einfache angelegenheit, wenn man einsam und allein ist ganz besonders. diese frau ist einsam und allein. das sieht man deutlich. aber ihr blick, wenn auch ein wenig müde, strahlt auch stolz aus. ihr gerader rücken sagt zu mir: “he, schau mich an, ich trau mir noch was zu.” ich antworte ihm in gedanken: “ja, gut so. denn so spürst du, dass du noch lebst.” ins café keese geht es heute nicht für die frau in rot. jedenfalls vorerst nicht. sie steigt am alex aus. es ist 10.30 uhr. ein weiterer tag voller abenteuer liegt vor ihr.