Nach dem Regen

Nach dem Regen

“Der Tod ist etwas Unbegreifliches, aber man kann sich mit ihm versöhnen.” (aus: Dark, S3E8)

Zum Gedenken an meinen wundervollen Ehemann, besten Freund und guten Weggefährten, ein Fotospaziergang durch Joachims Garten nach dem Regen..

 

Musik: sven a.p. moldovany

Fotos: Privatarchiv aus dem Hachenburger Garten

Hochzeitstag

Hochzeitstag

Für einen geliebten Geist

Du bist ein Schatten am Tage,
Und in der Nacht ein Licht;
Du lebst in meiner Klage,
Und stirbst im Herzen nicht.

Wo ich mein Zelt aufschlage,
Da wohnst du bei mir dicht;
Du bist mein Schatten am Tage,
Und in der Nacht ein Licht.

Wo ich auch nach dir frage,
Find’ ich von dir Bericht;
Du lebst im meiner Klage,
Und stirbst im Herzen nicht.

Du bist ein Schatten am Tage,
Und in der Nacht ein Licht;
Du lebst in meiner Klage,
Und stirbst im Herzen nicht.

(Friedrich Rückert)

Heute wäre unser vierter Hochzeitstag gewesen.

 

Es war einmal ein Kaktus

Es war einmal ein Kaktus

Meine Oma hieß Elsbeth. Sie wurde im vorvorherigen Jahrhundert geboren, 1896. Leider habe ich sie nur wenige Jahre erlebt. Sie starb als ich zehn Jahre alt war. Die kurze Zeit, die ich mit ihr verbringen durfte, habe ich in liebevoller Erinnerung. Wie in ihrer Generation üblich, trug Oma Elsbeth meist Kittel und war in der Regel in der Küche anzutreffen. Immer war Oma Elsbeth gut gelaunt, hatte rosige Wangen und freute sich, mich zu sehen. Oft schaukelte sie mich auf ihren Knien und sang: “Trocken Brot macht Wangen rot”. Meine Oma hatte zwei Weltkriege erlebt, da war das mit dem trockenen Brot anscheinend ein Thema. Jedenfalls hat mir diese Zeit eine bleibende Vorliebe für trockenes, mehrere Tage altes Graubrot beschert.

Meine Oma hatte eine Kaktus. Einen großen, stacheligen. Er stand im Wohnzimmer auf der Fensterbank. Als meine Oma noch lebte, spielte dieser Kaktus in meinem Leben keine große Rolle. Er stand eben da, war fast halb so groß wie ich und piekste entsetzlich. So etwas beachten Kinder nicht unbedingt, beziehungsweise meiden jeglichen Kontakt.

Als meine Oma starb, erbte meine Mutter diesen Kaktus. Fortan stand er bei uns im Wohnzimmer. Etwa ein bis zwei Jahre nach dem Tod meiner Oma, sagte meine Mutter eines Abends zu mir: “So, heute Nacht darfst du mit mir aufbleiben, die ganze Nacht.” Ich war verblüfft, denn ich war gerade einmal elf oder zwölf Jahre alt, und das hieß: zeitig schlafen gehen, da am anderen Morgen Schule war. Ich fragte meine Mutter also, warum wir uns denn beide die Nacht um die Ohren schlagen würden? Sie antwortete: “Weil heute die ‘Königin der Nacht’ blühen wird.” Das war das erste Mal, dass ich den Namen ‘Königin der Nacht’ hörte. Ich fragte mich, wer denn wohl diese Königin sei? Das klang geheimnisvoll und märchenhaft. Und Königinnen haben natürlich für kleine Mädchen etwas Magisches und in unserer Vorstellung von unendlich großer Schönheit. Umso mehr verblüffte es mich also, als ich erfuhr, dass es sich bei diesen nächtlichen Königin um den alten, stacheligen Kaktus meiner Oma handelte.

 

Königin für eine Nacht

Wie mir meine Mutter dann erklärte, ist es ein durchaus seltenes Ereignis, dass diese Kakteen in unseren Breitengraden blühen. Sie selbst, sagte sie, habe diesen Kaktus seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr blühen sehen. Wenn sich diese seltene Ereignis ergibt und der Kaktus zum Blühen ansetzt, dann bringt er oftmals nur eine einzige Blüte hervor.

Zunächst sitzt über viele Wochen ein kleiner Wollpuschel an dem Kaktus. Ob dieser tatsächlich zur Blüte reift, zeigt sich erst, wenn sich unter seiner Wolle ein festes grünes Kleid abzeichnet. Wochenlang schiebt er dann aus diesem Kleid einen haarigen Stengel heraus, der länger und länger wird und sich schließlich an der Spitze verdickt. Sobald das geschieht, heißt es: aufgepasst! Denn dann dauert es tatsächlich nur noch wenige Tage, bis der Kaktus seine Blütenpracht entfaltet. Und das dauert vom Beginn bis zu Ende ziemlich genau 24 Stunden und passiert in der Regel nachts, weswegen dieser Kaktus den Namen ‘Königin der Nacht’ trägt. Tatsächlich ist die Blüte so etwas wie eine prächtig geschmückte Königin. Ihre Kleid ist champagnerfarben, der Stempel zartgelb. Zu den Blattspitzen hin laufen die Blütenblätter in zarten, fedrigen Spitzen aus. In dieser einzigen Nacht ihrer Blüte entfaltet die Königin der Nacht einen unbeschreiblichen Duft. Fein und doch intensiv, schwer und leicht zugleich.

Ich kann mich noch gut an diese Blüten-Nacht mit meiner Mutter erinnern. Meine Mutter hatte den Kaktus in mein Zimmer getragen, wo wir es uns auf dem Sofa gemütlich machten. Es gab Knabbereien und zur Feier des Tages (und vermutlich, weil ich wach bleiben sollte), gab es eine Cola. Wir redeten nicht viel, sondern beobachteten den Kaktus und jede seiner Regungen. Und tatsächlich, irgendwann gegen Mitternacht öffnete sich die Blüte. Immer weiter öffnete sich der weiße Kelch. Wie in Zeitlupe entfaltete sich Blatt für Blatt und der Stempel schob sich Stunde um Stunde weiter heraus. Ich war irgendwann wie benebelt von dem Duft, mit dem uns die Königin der Nacht berauschte. Und ich schlief auch irgendwann an der Schulter meiner Mutter ein. Als ich am Morgen erwachte, hatte stand die Königin noch in ihrer vollen Pracht da. Doch als ich aus der Schule kam, hatte sie bereits ihren Rückzug angetreten. So langsam wie sie sich entfaltet hatte, so langsam fiel die Blüte in sich zusammen und starb schließlich.

 

Wüstenklima Westerwald

Es war ein Ereignis meiner Kindheit, was ich nie vergessen habe und was ich nie wieder erlebte, weil der Kaktus nie wieder blühte. Als ich von zu Hause auszog, gab mir meine Muter einen Ableger von Oma Elsbeth’s Kaktus mit, das war quasi wie ein Familienmitglied, das gemeinsam mit mir auszog. Diesen Kaktus habe ich zu Ehren meiner Oma über 30 Jahre von Wohnung zu Wohnung mitgeschleppt. Er hat große und kleine WGs erlebt, hat mich von Niedersachsen nach Berlin begleitet, hat sonnige und schattige Wohnungen gesehen und hat Trockenzeiten und Regenzeiten überlebt. Nie hat er geblüht. Bis jetzt.

Seit ich hier im Westerwald lebe, blüht der Kaktus. Er blüht, als wollte er die vergangenen blütenlosen Jahrzehnte aufholen. Vielleicht hat der Westerwald ein Kakteenblüten begünstigendes Wüstenklima. Denn auch viele seiner Söhne, Töchter und Enkel blühen hier plötzlich. Über 40 Jahre habe ich darauf gewartet, dass der Kaktus wenigstens einmal wieder blüht. Jetzt bringt er Blüten über Blüten hervor, mehrere auf einmal und mehrmals im Jahr.

In unserem ersten Westerwald-Jahr war gerade ein Freund zu Besuch und wir abends auf einer Party eingeladen. Und dann das: Eine Kaktusblüte war kurz vor dem Aufbrechen! Zum ersten Mal seit 40 Jahren hatte es ein Enkel von Oma Elsbeth’s Kaktus bis zur Blütenreife gebracht. Ich war auf der Party so hibbelig, dass ich nicht bleiben konnte. Ich verließ das Fest frühzeitig und kam gerade zu Hause an, als die Blüte begann, sich zu entfalten.

 

Blütenprachten

Vergangenes Jahr wollten es Oma’s Kaktusnachfahren endgültig wissen. Nicht eine Blüte begann zu reifen, nicht zwei, nicht drei, nein sechs Blüten gleichzeitig schickten sich an zu blühen. Und damit nicht genug, Wochen später standen schon wieder zahlreiche Blüten in den Startlöchern. In einer Nacht im August hatten wir 25 (in Worten: fünfundzwanzig!!!) Blüten an verschiedenen Kakteen, de alle in der gleichen Nacht blühten. Es war unglaublich. Es war unglaublich schön.

Und auch in diesem Jahr hat es ein kleiner Ableger schon wieder geschafft zu blühen. Dieses Mal war es (bislang) nur eine Blüte. Sie war eine Erinnerung an die gemeinsamen Blütenerlebnisse mit Joachim in den vergangenen zwei Jahren. Joachim war jedes Mal mit mir aufgeregt über jede nächste Kaktusblüte gewesen. Und schließlich war die Geschichte von Oma Elsbeth’s Kaktus zu unserer gemeinsamen Kaktusblüten-Familiengeschichte geworden.

Jetzt ist sie wieder nur meine Geschichte.

 

Heute

Heute

Ein Gedicht für zwei geliebte Männer

 

Heute vor elf Jahren feierten Henry und ich unseren gemeinsamen “90zigsten Geburtstag” mit einer unvergesslichen Gartenparty im Brandenburgischen.

Heute vor sieben Jahren starb mein geliebter Henry.

Heute vor zwei Jahren verließen Joachim und ich Berlin, für immer. Wie glücklich und voller Ideen für unsere gemeinsame Zukunft waren wir. Auf den Flügeln des Glücks flogen wir gen Westen. Waren gespannt auf unser Leben im Westerwald. Hatten so viele Ideen für den Garten, für das Haus, für unser gemeinsames Leben.

Heute. Ich sitze in unserem Garten und staune über die unendliche Schönheit, die in den vergangenen zwei Jahren hier entstanden ist. Alles blüht in Fülle. In jeder Pflanze, jeder Blume, in jedem Strauch steckt unsere Geschichte, steckt unser gemeinsames Bemühen für diesen Garten. Hier hat Joachims und meine Liebe einen sichtbaren Ausdruck in der Welt gefunden.

Heute. Ich sitze allein in unserem Garten.

Heute vor sieben Monaten und 20 Tagen starb mein geliebter Joachim.

 

Dies ist das letzte Foto von Joachim in unserem Garten, als er im Oktober 2019 die neuen Gemüsebeete anlegte. Einen Monat später starb er völlig unerwartet an einem Herzinfarkt.

Das sind die Beete heute, am 20. Juni 2020, an unserem zweiten Jahrestag im Westerwald.

Die Natur kennt keine Trauer

Die Natur kennt keine Trauer

Im November 2019, als mein Mann Joachim starb, konnte ich mir nicht vorstellen, jemals wieder in unserem geliebten Garten zu arbeiten. Schon allein das Sitzen im Garten war mir ein Graus. Und dennoch tat ich es.

Jeden Morgen packte ich mich warm ein, ging mit meinem ersten Kaffee hinaus, setzte mich in Joachims Gartenstuhl, dort wo er in den vergangenen 16 Monaten jeden Morgen mit Kaffee und Zigarette gesessen hatte, lehnte mich in das Polster und spürte ihm nach. Ich spürte seine Wärme in meinem Rücken, seine Berührung, seine Liebe.

Ich betrachtete unseren Garten. Was hatten wir geschaffen in diesen 16 Monaten! Wir hatten Blumenbeete angelegt, Bäume und Büsche gepflanzt, Stauden gesetzt, ein Naschbeet und ein Kohlbeet ausgehoben, Hochbeete gezimmert, Komposte gebaut, eine Terrasse überdacht und ein Gartenhaus renoviert.

Ich saß dort in seinem Stuhl und sah Joachim, wie er Unkrautfolie herauszog, Steine schleppte, eine Abflussleitung legte, einen Verschlag fürs Kaminholz baute, wie er grub, hackte und mähte. Ich hörte seine Bitte an mich, an diesem Morgensitzplatz seine geliebten Osterglocken zu pflanzen. Ich sah seine überschäumende Freude, wenn er mir eine neue Pflanze für den Garten mitbrachte.

An jedem Morgen waren wir zusammen durch den Garten gegangen, hatten voller Staunen und Freude gesehen wie alles wächst und blüht. Das Wunder der Natur war wie unser gemeinsames Wunder der Liebe. Wir waren vom ersten Moment an verliebt gewesen und unsere Liebe wuchs von Tag zu Tag, war so klar und erfrischend wie die Blüte einer Osterglocke. Hier mit diesem Garten hatten wir das gefunden, was uns gemeinsam erfüllte.

Vorbei.

Jetzt gehe ich morgens allein durch den Garten. Sehe in jeder Blume, in jedem Strauch die Geschichte, welche die Pflanze mit uns verbindet. Gerade sprießt der Bärlauch, auf den wir beide uns vergangenes Jahr so gefreut hatten als wir ihn setzten. Und Joachims Sauerampfer liefert bereits zartgrüne Blätter für erfrischende Smoothies. Auch sein geliebter Mangold schlägt wieder aus. Und die Knospen des Kirschbaums, den wir gemeinsam ausgesucht haben, stehen kurz vor dem Aufbrechen. Ich höre unsere Gespräche über die Himbeere oder den Bambus und ob sie vielleicht zu Raum greifend sein würden. Und ich musste lächeln dieser Tage als ich sah wie emsig die Himbeere Ableger produziert. Joachim hatte mich gewarnt…

Alles ist voll von unseren Geschichten. Jetzt werden sie nicht mehr fortgeschrieben, jedenfalls nicht mehr als unsere Geschichten. Alles, was ab jetzt dazukommt, ist nur noch meine Geschichte. Wieder einmal stehe ich da mit der Rechnung “Wir minus eins gleich eins”.

Jetzt ist Frühjahr. Joachims Tod ist viereinhalb Monate her. Und die Natur gibt einen Scheiss darauf, ob es mir gut geht oder nicht. Das Unkraut sprießt, die Büsche wachsen, Blumen wollen bewundert und Beete geharkt werden. Und so schwer es mir auch fiel, ich habe auf die Natur gehört. Ich habe Unkraut gejätet, Beete vom Winterkleid befreit, gehäckselt und geharkt. Ich habe jemanden engagiert zum Büsche beschneiden und Rasen mähen. Und das fiel besonders schwer, denn das wären Joachims Arbeiten gewesen.

Vor ein paar Tagen habe ich sein Kohlbeet gesäubert, von dem Kohl befreit, den Joachim im Winter nicht mehr ernten und nicht mehr essen konnte. An seinem Morgensitzplatz blühen gerade die Osterglocken, die ich im Herbst dort für ihn gepflanzt hatte. All das sind kleine Abschiede, die jeden Tag zu einer Herausforderung werden lassen. Die Herausforderung heißt: Weiterleben und nicht aufgeben. Wie das geht? Die Natur macht es vor. Sie kennt keine Trauer. Sie macht einfach weiter.

 

Joachim mit seinem ersten geernteten Kohl