Im fünften Jahr

Im fünften Jahr

Irgendwann hat wohl jeder schon einmal darüber sinniert, wie schnell doch die Zeit vergeht. Und auch wenn die Zeit an sich objektiv für alle gleich schnell (bzw. langsam) vergeht, ist sie doch etwas ganz und gar subjektiv Empfundenes.

Heute, am 20. Juni 2018, ist es fünf Jahre her, seit mein ersten Ehemann tödlich verunglückte. In diesen fünf Jahren bin ich durch die Hölle gegangen und in den Himmel geflogen. Das Leben hält alles bereit. Das Eine wie das Andere. Ich will nicht von Gutem oder Bösem, von positiv oder negativ sprechen. Alles ist das, was jeder Mensch daraus macht. Ganz eigenverantwortlich. Und so kann auch im Fürchterlichen ein Funken Hoffnung stecken, und am Ende einer Geschichte eine Zukunft beginnen.

Verbunden bleiben

Als Henry starb wusste ich sofort, aus unserer gemeinsamen Wohnung kann ich nicht ausziehen, jedenfalls nicht sofort. Manche Freunde rieten mir dazu. Ich sagte Nein und blieb. Denn hier fühlte ich mich ihm verbunden, enger verbunden als sonst wo. Diese Wohnung hatten wir zusammen ausgesucht und gemeinsam zu unserem Zuhause gemacht.

Mit den Jahren merkte ich jedoch wie diese Verbundenheit an diesem Ort schwand. Und das lag nicht daran, dass ich irgendwann mit einem anderen geliebten Menschen hier lebte. Nein, es war vielmehr so, dass ich merkte wie meinen Erinnerungen an Henry Flügel wuchsen. Ich begann Orte zu besuchen, an denen wir zusammen gewesen waren. Es war etwas, das mir zu Beginn sehr schwer fiel, denn es belebte den Schmerz über den Verlust. Doch je öfters ich an Orte kam, die mich mit Henry verbanden, desto leichter fiel es mir, dort an ihn zu denken und unserer Liebe nachzuspüren.

Es ist immer ein Denken in Liebe und Verbundenheit, in Freude und Dankbarkeit für die wunderbare Zeit, die wir zusammen hatten, auch wenn es noch nicht einmal sieben Jahre waren.

Orte der Verbundenheit

Viel haben wir unternommen in diesen Jahren. Wir waren in Budapest, in Paris und in London, in Venedig und Warschau, auf Kreta, in meinem geliebten Harz, in Franken, im Erzgebirge, auf der Zugspitze, an der Nordsee, auf Rügen und oft an unserem gemeinsamen Sehnsuchtsort, auf dem Darss. Wäre es anders gekommen und Henry und ich hätten weiter zusammen gelebt, eines Tages wären wir wahrscheinlich auf den Darss gezogen, dahin, wo wir uns verliebt haben.

Während ich diese Bildergalerie zusammenstelle, laufen meine Augen über von Tränen und ich lache mich kaputt. Es sind Tränen der Trauer, die nie ganz vergehen wird, und Tränen des Glücks, dass ich mit diesem Menschen eine Zeit leben und ihn erleben durfte. Und es sind herzliche Lacher in Erinnerung an einen großartigen Menschen, der ungemein witzig sein konnte und mit dem das Reisen ein großes Vergnügen war. Danke, mein geliebter Henry, für sechseinhalb wunderbare Jahre.

Zu neuen Ufern

Heute, am 20. Juni 2018, verlasse ich unseren gemeinsamen Ort, ziehe ich aus unserer Wohnung, die wir beide so sehr geliebt haben, aus. Es fühlt sich passend an, an diesem Tag aufzubrechen in ein neues Leben. Es wird anders sein, an einem Ort zu leben, an dem mich nichts mit Henry verbindet. Dennoch bleibt die Verbundenheit, in meinen Erinnerungen und in meinem Herzen. Für immer.

Rauhjahre – Rückblick auf eine Heimat

Rauhjahre – Rückblick auf eine Heimat

18 Jahre, 5 Monate und 19 Tage habe ich in Berlin gelebt.

Zum Jahrtausendwechsel kam ich in die Stadt. Erlebte hier größtes Glück und größtes Unglück. Habe hier geliebt, gelacht, geweint, getrauert, gelebt. Habe Freunde fürs Leben gefunden und Freunde an das Leben und den Tod verloren. Ich bin durch die Nächte getanzt und durch die Tage gewandert. Ich habe diese Stadt geliebt und gehasst. Die Stadt hat mich umarmt und getreten. Nirgendwo sonst wird Gegensätzlichkeit so kultiviert wie in Berlin.

Rauhjahre von Beginn an

Selten habe ich Berlin harmonisch und friedlich erlebt. Die Stadt ist immer in Rebellion, 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag. Mehr als 5.000 Demonstrationen wurden 2017 gezählt, das sind 13 pro Tag. 13 Mal täglich wird in Berlin die Haltung zelebriert gegen etwas zu sein. Nichts gegen Demonstrationen. Jeder möge bitte sein Recht ausüben für oder gegen etwas zu sein. Doch so eine Häufung von Protest macht etwas mit einer Stadt, hinterlässt Spuren, beeinflusst Atmosphären.

Viele der Menschen, die hier leben, sind jederzeit auf Krawall gebürstet. Berüchtigt ist die raue Berliner Herzlichkeit. Gleich in meinen ersten Berliner Tagen machte ich unvergessliche Bekanntschaft mit der damals noch weit verbreiteten “Freundlichkeit” der Berliner Busfahrer, wurde angeschrien als ich versehentlich einen gerade pausierenden Bus besteigen wollte, so dass ich durch das laute Brüllen des Busfahrers förmlich rückwärts aus der Tür gepustet wurde. Inzwischen sind die (meisten) Berliner BusfahrerInnen wirklich sehr freundlich, so viel sei zu ihrer Entlastung gesagt. Doch die damalige Erlebnis hat mein Verhältnis zum öffentlichen Berliner Nahverkehr auf immer geprägt. Und für alle zukünftigen Berliner sei an dieser Stelle der legendäre Satz der Berliner U-Bahnfahrer erwähnt: “Mit’m Faaahrad nich’ in ersten Wagen!” Wer den nicht mindestens einmal gehört hat, darf sich nicht Berliner nennen.

Der ÖPNV ist über die Jahre zu einem meiner Lieblingsthemen hier in Berlin avanciert. Auch in diesem Blog war der hassgeliebte Berliner ÖPNV ja des öfteren Thema. Ich fand es immer großartig, dass man in dieser weitläufigen Stadt wirklich überall hinkommt mit den Öffis (wie auch der Berliner seine Busse und Bahnen liebevoll nennt). Theoretisch. Denn in der Praxis fuhren die Bahnen, besonders die S-Bahnen, oft genug nicht. 11 Jahre war ich auf die S-Bahn angewiesen, um zur Arbeit nach Mitte und wieder zurück nach Köpenick zu kommen, 11 Jahre des Leidens, 11 raue Jahre. Auf zugigen Bahnsteigen habe ich gebibbert, in ungeheizten Wagen gefroren. Kaum fiel eine Schneeflocke, brach der S-Bahn-Verkehr mit schöner Regelmäßigkeit zusammen. Es ist ein running gag, dass die Berliner S-Bahn vier Feinde hat: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Es ist in meiner Berliner Zeit leider auch viel zu oft eine Tatsache gewesen.

Wow, Berlin!

Berliner FernsehturmBerlin ist anstrengender geworden, je älter ich wurde. Als ich mit Mitte 30 hier ankam, hat mich das Pulsierende belebt. Es ging damit ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Denn bereits während des Studiums wollte ich nach Berlin ziehen, in die damals noch geteilte Stadt. Das hatte aus Gründen nicht geklappt. Am 2. Januar 2000 ergab sich dann endlich die berufliche Möglichkeit, auf die Welle der New-Economy-Bewegung aufzuspringen, die zwar bereits im Abschwingen war, dennoch wurde fleißig weiter streetgegolft und Sushis gemampft. Die Welle spülte mich damals mitten ins Herz der Stadt. Nach Mitte an den Hackeschen Markt, in die Rosenthaler Straße, wo mein Büro stand. Abends auf dem Heimweg nach Charlottenburg, wenn ich von der Rosenthaler kommend um die Ecke auf den Hackeschen Markt einbog, um zur S-Bahn zu gehen, war ich Tag für Tag überwältigt vom Anblick des Berliner Fernsehturms, der durch die Häuserschluchten lugte. Dann erschauderte ich förmlich und sagte mir: “Du bist in Berlin!” Wow. Es war ein tolles Gefühl. Heute haben Bauten die Lücken geschlossen und die Sicht auf den sogenannten Telespargel vielerorts versperrt.

Berlin war damals die Stadt der Möglichkeiten und der Unverbindlichkeiten. Hier war es dem Nachbarn egal, wer Du warst und was Du tust. Kein Kleinstadtmief, sondern Großstadtduft. Besonders im Sommer habe ich diesen Großstadtduft geliebt. Der Duft von heißem Asphalt, Abgasen und Schweiß. Es klingt vielleicht wenig attraktiv, doch diese Duftmischung hat mich an Urlaub erinnert, an Städte wie Florenz oder Rom an einem brennend heißen Sommertag.

Im Winter dagegen wurde Berlin schnell zum Feind. Denn die Winter hier sind oft lang und rau, dauern gern auch mal von Anfang November bis Anfang Mai und lassen die Stadt regelmäßig in eine geduckte, kollektive Depression versinken.

Berlin wummert

In jungen Jahren tanzt man sich diese Depression weg. Berlin wummert 12 Monate im Jahr, Tag für Tag, Stunde um Stunde. Gelegenheiten zum Tanzen gibt es genug. Doch mit dem Älterwerden kommt die Ruhe, da schwindet das Bedürfnis sich etwas wegzutanzen.

Meine Ruhe fand ich in Berlin durch den Umzug vom quirligen Ku’damm-Kiez in den beschaulichen Köpenicker Kiez. Jedenfalls war er damals, vor 11 Jahren noch beschaulich, fast wie eine Kleinstadt in der Großstadt. Heute wummert es auch in Köpenick. Zumindest von April bis Oktober, wenn die Partyboote am Wochenende im Halbstundentakt an unserem Balkon vorbeischippern oder auf dem Luisenhain gefeiert wird. Wasser trägt Schall weit. Die Spree als Partyzone im endlos dröhnenden Elektrobeat. Nichts, was ich wirklich haben will.

Und dann geistert seit ein paar Jahren auch noch dieses Wort durch Berlin. Ein Wort, was ebenfalls wenig bis gar nicht attraktivtätssteigernd für die Stadt wirkt: Verdichtung. Da haben die Städteplaner etwas erfunden, das in den meisten Fällen die Lebensqualität verschlechtert, und im Falle Berlins, diese Stadt dramatisch verändern wird.

Ja, es ist richtig, Berlin gewinnt mehr und mehr an Attraktivität. Und das ist auch gut so, um den ehemaligen Partybürgermeister zu zitieren. Nix gegen inspirierte Menschen, zieht alle her! Belebt diese Stadt! Doch, wo sollen all die Menschen wohnen, fragten sich wohl irgendwann die Stadtplaner. Das war vermutlich der Tag, an dem Berlin die Verdichtung für sich entdeckte.

Inzwischen wird jede Brache bebaut, jeder freie Fleck verdichtet. Statt auf alte, sich im Wind wiegende Bäume, schaue ich inzwischen auf Beton. Und die Verdichtung nimmt kein Ende. Im Herbst wird in unserer Straße hier weiter abgerissen und neu aufgebaut. Weitere x-hundert Wohnungen braucht das Land. Doch diesen Baustaub werde ich nicht mehr einatmen.

Goodbye, Stadt meiner einstigen Träume!

Berlin, du warst großartig und grausam. Ich danke dir für jede Erfahrung, die ich mit dir machen durfte. Sie hat viel dazu beigetragen, dass ich heute die bin, die ich bin. Ich habe dich geliebt und gefürchtet. Nun verlasse ich dich. Für immer? Wer weiß das schon. Das Leben ist kurvenreich und niemand kann sagen, was hinter der nächsten Biegung passiert. Es ist kein Abschied auf ewig. Denn Freunde wollen hier besucht, Feste gefeiert und Gräber mit Rosen bekränzt werden. Doch wenn ich zurückkomme, wird es anders sein als jetzt. Ich komme als Besucherin zurück, nicht mehr als Teil dieser Stadt. Ich werde eine andere Stadt Heimat nennen und dort in ein wohliges, vertrautes Heim zurückkehren, zurück aus dieser rauen Stadt, die ich fast 19 Jahre lang “Heimat” nennen durfte.

Tschüss Berlin. Danke.

Wien monochrom

Wien monochrom

Selten habe ich eine Stadt gesehen, die so monochrom ist wie Wien. Vielleicht lag es an der fehlenden blühenden Vegetation. Das kann sein. So wie ich es angetroffen habe, war es eine Stadt in Sepiatönen. Ohne Höhen, ohne Tiefen. Eine Einheit erstarrt in der Zeit. Das wenige Farbige war die Reminiszenz an einen bereits lange Toten.

Im Ring und am Ring wirkt die Stadt wie ein großes Museum. Genauso bewegen sich auch die Menschen in ihr. Die Touristen mit den Köpfen nach oben gereckt, ein stummes Oh und Ah nach dem anderen auf den Lippen. Die Wiener so still und stumm wie ihre Stadt. Erstarrt. Selbst in den Randbezirken scheint die Zeit still zu stehen. Und auch das ewige Auf und Ab und Umrunden der Trambahnen und Autos durchbricht das Museale Wiens nicht.

Wien monochrom – eine Stadt als Museum

 

 

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Mehr Reiseberichte? Wie wäre es mit “Besuch im Brexit-Land“?

Mein Freund, der Baum

Mein Freund, der Baum

“Mehr Licht”. Goethe tat diesen Ausspruch wahrscheinlich nicht, weil ein eben vor seinem Fenster gefällter Baum mehr Licht auf den Dichter im Sterbebett fallen ließ. Dennoch benannte der Naturforscher im Dichter damit das Phänomen, was gemeinhin mit dem Fällen von Bäumen verbunden ist. In Fenster, Räume und Wohnungen fällt mehr Licht. Und damit sind wir auch schon am Ende der Positivliste, was das Bäumefällen betrifft.

Ja, er mag morsch gewesen sein und deshalb gefährlich für die unter ihm grillenden und feiernden Angler des ortsansässigen Angel- und Bootsvereins. Selbstverständlich geht Sicherheit vor Schönheit. Und nochmal Ja, es mag wichtigere Themen geben, die den Weltfrieden bedrohen. Natürlich sind Kriege, Hunger, Armut, Korruption und Paradise Papers die dringlicheren Probleme, die es zu lösen gilt. Und dennoch. Es gibt eben auch Bäume, die wichtig sind. Und irgendwie hängt das Fällen “meines” Baumes auch mit Panama, Paradise und den internationalen Immobilienspekulanten zusammen.

Denn wäre nicht der Berliner Wohnraum so begehrt, hätte der nette, ältere Herr Nachbar aus der entzückenden Jugendstil-Villa von nebenan, vermutlich nicht die seit Jahrzehnten vor sich hin dämmernde Brache mit Wasserblick verkauft. Auch würden die vielen anderen schönen Bäume noch dort stehen, die bereits in den vergangenen Jahren ihr vorzeitiges Ende im laut vor sich hin röhrenden Häcksler eines Baumentsorgers fanden. Und auch die Jugendstilvilla würde weiter inmitten der idyllischen Gartenbrache ihren Traum weiterträumen, sie sei ein verwunschenes Schloss. Heute steht das vermeintliche Schloss verängstigt geduckt inmitten von grauen Betonblöcken, die das kleine Schlösschen mit seinen Türmchen wie böse Riesen argwöhnisch von oben herab beäugen.

Immobilienblase, ick hör’ dir platzen

Argwöhnisch beäugt wurde auch die besagte Baustelle – von meinen Nachbarn und von mir. Denn selbstverständlich verändert sich ein Kiez, wenn in großer Zahl gebaut wird, zum Guten wie zum Schlechten. Gemunkelt wurde über die Bauten so einiges in den vergangenen Jahren. Meistbietend an solvente Chinesen und neureiche Russen soll der schöne Wohnraum mit Wasserblick verkauft worden sein. Selbstverständlich nur als Investition. Die Paradise Papers lassen grüßen.

Nun, egal, wer mit seinem Geld nirgendwo hin weiß, kauft sich ‘ne Wohnung in Übersee. Auch wenn manch einer von den Alteingessesenen hier am Ort vielleicht heimlich vor sich hin berlinert hat, “Immobilienblase, ick hör’ dir platzen”, war dem bislang nicht so. Es wurde gebaut, und inzwischen wird sogar schon bewohnt. Wer von den Neukäufern und Neumietern allerdings nach den hübschen Bildchen im Projektierungsprospekt der Immobilienfirma seine Traumwohnung ausgewählt hat, wurde spätestens heute bitter enttäuscht. Versprochen wurde den Käufern/Mietern eine zauberhafte Wohnlage am Wasser inmitten eines herrlichen Baumbestandes. Auf den Fotos der Immobilienfirma hörte man die altehrwürdigen, großen Bäume beinahe rauschen, sanft im Wind tanzend zur träg und leise dahinplätschernden Spree.

Tja, einst sah es hier tatsächlich so aus. Seit heute gehören diese Bilder der Vergangenheit an.

Als ich hier einzog, es war Hochsommer, faszinierte mich nicht unbedingt der pittoreske Blick auf die Köpenicker Altstadt, mich nahm eher die Aussicht zur anderen Seite ein. Alte, riesengroße Bäume, mit ihren Köpfen Richtung Spree nickend, als wollten sie aus dem Fluss trinken. Und einer davon war besonders eindrucksvoll. Durch das Jahr hindurch bezauberte die Eiche mit ihrem wechselnden Blätterkleid. Im Frühling hob sich ihr frisches, zartes Grün klar gegen den himmelblauen Himmel ab. Im Herbst legte sie ihr strahlendes gelbes Kleid an, das allmählich von Rot- zu Brauntönen wechselte und in der Abendsonne wunderschön leuchtete.

Vorbei.

Seit heute ist dieser Baum Geschichte und Erinnerung. In meiner Erinnerung werden diese Bilder bleiben, er war

Mein Freund, der Baum

Tschüss Baum, du warst ein treuer Begleiter über zehn Jahre an der Spree. Hast mein Herz stets erfreut und mir das Wunder der Natur gezeigt. Heute ist mir schwer zu Mute. Mein Herz weint. Arg sind die Bilder deines Niedergangs unter der kreischenden Motorsäge.

 

Es war vielleicht nur ein Baum. Und vielleicht wäre er auch bald von selbst gefallen, weil er irgendwann alt, krank und morsch gewesen wäre. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

Besuch im Brexit-Land

Besuch im Brexit-Land

Südengland stand schon lange auf der Liste meiner Reiseziele. Altenglische Seebäder schläfrig im morbiden Charme längst vergangener, goldener Zeiten versunken ; steile, Meer umtoste Klippen, die den Blick in die endlose Ferne schweifen lassen; Minzsauce und Cornish Pasties und Cream Tea und Scones; Distinguiertheit und höfliche Zurückhaltung – das ging mir bei Südengland bislang immer durch den Kopf. Vieles davon habe ich tatsächlich auch dort angetroffen. Knapp ein Jahr nach der Brexit-Entscheidung der Engländer machen wir uns auf den Weg. Heißt man uns in Brexit-Land überhaupt noch willkommen? Heißt Europäer raus auch gleichzeitig Touristen raus? Der englische Süden hat sich mit großer Mehrheit für den Brexit ausgesprochen. Warum? Eine Spurensuche.

Tea for Two

Cream Tea und Scones wurden für meinen Mann und mich schnell zu einer liebenswerten Nachmittagsroutine. Dafür hatte unsere bezaubernde Landlady, die Vermieterin der AirBnB-Wohnung gesorgt. Bei unserer Ankunft in Uplyme, Devon, gab es erst einmal eine Tasse Tee und leckere, noch ofenwarme Scones mit selbstgemachter Marmelade und clotted cream im schönen Patio unseres Urlaubsdomizils.

 

Tja, so lecker das ist, so schnell schleicht sich diese Gewohnheit als eine kalorienreiche Liebelei ein. Wo immer es uns an den Nachmittagen hinspült, überall gibt es Tea und Scones, wahlweise es auch mal Gurkensandwiches dazu. Das gute an dieser reichhaltigen Afternoon-Tradition: Meistens hatten wir zum Diner gar keinen großen Appetit mehr auf ein komplettes Menü, was sich auch als gut erwies bei der mehr als mäßigen Pub-Gastronomie in England.

Wir haben tatsächlich nur einmal wirklich lecker auswärts gegessen, und zwar im Ilchester Arms in Abbotsbury, eine fabelhafte Küche, freundliche Menschen und ein sehr gemütliches Plätzchen, bei gutem Wetter sogar mit spektakulärem Ausblick aus dem Gartenlokal auf die einsam auf einem Hügel thronende Abbotsbury Abbey. Sicherlich gibt es viel mehr gute Lokalitäten in Südengland, nur sind sie uns bei diesem Besuch nicht über den Weg gelaufen. Zum Beispiel war da auch das River Cottage ganz bei uns in der Nähe. Aber, was das betraf, wir hatten einfach keine Lust auf einen Abend für 160 £. Und ob es da Minzsauce gegeben hätte? Ich bezweifle es.

Wie das alles mit der Gastronomie nach dem Brexit so wird, frage ich mich. Denn neben den gastronomisch eher mäßigen Pubs gibt es natürlich immer und überall italienische, griechische, kroatische, spanische etc. Restaurants. Müssen die nach vollzogenem Brexit alle zumachen und das Land verlassen?

In der Lyme Bay

Quartier bezogen hatten wir, wie oben bereits erwähnt, bei Kate in Uplyme unweit von Lyme Regis, in der Lyme Bay. Lyme Regis ist ein pittoreskes Örtchen, wie viele an der südenglischen Küste. Schmale, sehr enge Straßen, durch die sich trotzdem mehrmals täglich der Jurassic Coaster (ein Linienbus mit Aussichtsterrasse) zwängt, so dass sich die Touristen Luft anhaltend an die Häuserwände pressen.

Die Jurassic Coast, so benannt wegen der zahlreichen Fossilienfunde, ist UNESCO Weltnaturerbe und erstreckt sich etwa 150 Kilometer zwischen Exmouth und Swanage. Kleine, schmale Buchten wechseln mit langen, weißen Stränden. Zu Zeiten von Ebbe krabbeln vielerorts Fossiliensucher wie Krebse durch den Schlick. Hier und da gibt es noch Fischerei. Überwiegend lebt man vom Tourismus.

Lyme Regis, der Name dieses Ortes klingt mir seit über 30 Jahren in den Ohren. Damals, nach dem Abitur, verbrachte eine Freundin dort ein Jahr als Aupair. Ich hatte sie zwar nie dort besucht, doch der Name des Ortes sowie eine vage Erinnerung, dass es sehr schön sei, war geblieben. Zudem ist der Ort den Literaten und Cineasten natürlich bekannt wegen des John-Fowles-Romans “Die Geliebte des französischen Leutnants” und dessen Verfilmung mit Meryl Streep. Unvergessen die Szene, in der Meryl Streep sturmumtöst am Ende der Mole steht. Da stand ich auch, und ja, sie ist meistens sehr windumtost.

Heute erinnert im Ort nur noch wenig an diese berühmte Geschichte. Ein Bistro trägt den Namen “The French Lieutanant’s Wife”. Ansonsten profiliert sich der Ort touristisch mehr mit Fossilien und Dorset Tea. Der Badeort Lyme Regis ist zudem ein guter Ausgangspunkt für Ausflüge in die nähere und ferner Umgebung.

Kirchen und Kathedralen

Die gibt es in England zu Hauf. Jedes noch so kleine Örtchen hat eine im Verhältnis oft mächtige Kirche. Massig, eher wie kleine Trutzburgen, wirken viele der romanischen und gotischen Gotteshäuser. Verwitterte, moosige Kreuze stehen windschief herum und erwecken den Eindruck, man sei aus der Zeit gefallen hier an diesen Orten.

In Exeter und Wells ist ein Besuch der Kathedralen angesagt. Innen wie außen sehenswerte Architektur, und wer Lust auf Geschichte hat, kann eine unterhaltsame Führung mitmachen. In Wells lohnt zudem der Bummel rund um die Kathedrale für alle, die gern ein bisschen nett shoppen wollen oder auch gemütlich einen Kaffee oder Tee trinken möchten.

Mythos Glastonbury

Unter das Kapitel Kirchen und Kathedralen fällt eigentlich auch der Besuch in Glastonbury. Doch gebührt diesem außergewöhnlichen Ort eine eigene Headline. Denn auch wenn diese Kathedrale seit über 500 Jahren verfallen ist, ist sie eine der eindrucksvollsten Bauten, die ich je gesehen habe. Hier lebt Geschichte, oder besser gesagt: Mythos. Jesus himself soll als Kind zusammen mit Josef von Arimathäa Glastonbury besucht haben. Artus und Guinevere sollen hier begraben sein. Und im Garten steht ein Ableger des Heilgen Dornbuschs. Zudem soll der Hügel rund um den Glastonbury Tor (= einsamer Turm auf Hügel) das sagenhafte Avalon sein.

Wow! Ob es nun Einbildung ist oder nicht, irgendwie hat das Gelände rund um die Abbey tatsächlich eine mystische Ausstrahlung. Selbst das, was noch steht von der einst mächtigen Kathedrale erscheint überirdisch. Imposant muss dieser Bau im Mittelalter dort gethront haben. In den Überresten der Sakristei prickelt es im Nacken. Und da … war das nicht das Läuten der nicht mehr vorhandenen Glocke?

Der Ort amüsiert mich und animiert geradezu zum Geschichten erfinden und Geschichten erzählen. Rund um die Abbey in den netten Sträßchen hat sich diesbezüglich eine illustre Schar an mehr oder minder mystischen Profiteuren niedergelassen und verkauft heilende Amulette und Getränke, beseelte Bildchen und bunten Firlefanz für die eigene, ewige Erleuchtung. Und im Hippie-Café gibt es selbstverständlich ökologisch einwandfreien Creamtea und vegane Scones.

Mehr Fotos von Glastonbury, hier entlang …

Cornwall

Von Devon aus ist es nach Cornwall noch ein ganzes Stück. Etwa zwei Stunden Fahrt. Aber, Cornwall gehört natürlich zu einem Südenglangtrip unbedingt dazu. Und ist man erst einmal auf der M5 bzw. A38 geht es auch recht zügig voran.

Wer die Abzweiger nach Plymouth passiert, ist in Cornwall – und fährt meistens gleich weiter. Denn Plymouth wird dominiert von seinem Flair als Industrie- und Hafenstadt. Hier sind die britische Marine und ihre Werften zu Hause. Gleich hinter Plymouth wird es lieblicher. Die Straßen wellen sich sanft über die Hügel. Links blitzt ab und an das Meer in der Ferne durch.

Wir steuern Fowey an, ein wiederum pittoreskes Fischerdörfchen an der Polperro Heritage Coast. Sehr steil winden sich die Straßen vom Parkplatz oberhalb des Ortes hinunter zum Wasser. Die Häuser klammern sich scheinbar fast verzweifelt an die Felsen, auf denen sie gebaut sind. Der Parkplatz oberhalb des Ortes macht Sinn. Denn hier unten in diesen schmalen Gassen möchte man nicht Auto fahren. Und doch trauen sich einige Verwegene oder Fußfaule oder eben die Ortsansässigen, die ja ab und zu sicher auch etwas bis vor ihre Haustüren fahren und abladen wollen. Doch so wie sich die Touristenströme in dem winzigen Ort drängen, macht sicher auch als Einheimischer das Auto fahren hier keinen Spaß.

Der Ort selbst ist sehr hübsch und ein tolles, kleines Shoppingparadies. Süße, nette Lädchen mit diversem Nippes, den man vorher nicht dachte, dass man ihn hinterher besäße. So in etwa ist das Konzept, und es geht auf. Dicht drängen sich die Leute hier weniger wegen der eher mäßig schönen Aussicht als wegen der Einkaufsmöglichkeiten.

Nach recht kurzer Zeit haben wir genug gesehen, einen Kaffee getrunken und ziehen wieder los. Tintagel wartet. Mystic Journey Teil 2.

Mystisches Tintagel

Wer in Südengland unterwegs ist, trifft ständig auf Magie und Mythen. Und einer der magischsten Orte ist sicherlich Tintagel. Der Legende nach soll hier König Artus gezeugt worden sein. Und auch die Geschichte von der Liebe zwischen Tristan und Isolde ist hier angesiedelt.

Das Dorf Tintagel ist ganz dem Artus-Kult gewidmet. Natürlich gibt es Rüstungen und Excalibur als Plaste-Schwert zu kaufen. Das ist nun mal so, wenn etwas touristisch genutzt wird. Kein Problem für mich. Was aber niemand von der örtlichen Tourismus-Gilde steuern kann, ist das Wetter. Und das entwirft, exakt als wir auf den Ort zufahren, eine wirklich passende Kulisse.

Es regnet leicht. Der Wind braust.  Die Wolken hängen tief. Nebel zieht auf. Der Besuch des Castles kostet 12 £ plus 3 £ pro Nase und Fahrt, wenn man sich mit dem Jeep runter zum Eingang fahren lassen will. Wir wollen. Und das ist eine weise Entscheidung wie sich kurz darauf zeigt. Denn Tintagel Castle lässt sich ausschießlich über einen sehr steilen, schmalen, teils in die Felsen gehauenen Pfad erklimmen. Ein Pfad für Mutige wie ich finde. Gut, dass es ein Geländer gibt, denn einige Stellen sind so schmal sind, dass man warten muss, um Entgegenkommende vorbeizulassen. Puh! Geschafft. Alle Mühe wird mit dem Ausblick belohnt, wenn man in den Überresten der Burg steht. Wer kommt auf die Idee, ausgerechnet hier eine Burg zu bauen, geht es mir durch den Kopf. Tintagel muss sich geradezu verzweifelt an den Felsen geklammert haben, auf dem es stand. Uneinnehmbar, vermutlich. außer man hat wie Uther Pendragon einen Zauberer wie Merlin dabei. Doch das ist eine eigene Geschichte.

Wir laufen das gesamte Gelände ab. Es ist groß, weitläufig. Und an manchen Stellen braust der Wind so stark, dass man sich kaum auf den Füßen halten kann. Ganz oben, auf dem höchsten Plateau, steht eine Skulptur, ein Artus aus Eisen. Er wacht über dem Gelände. Noch heute bewacht König Artus seine Burg.

Brexit? War da was?

Der Brexit. Den habe ich im Laufe des Schreibens dieses Artikels ganz aus dem Auge verloren. Der Grund dafür ist vielleicht der, dass wir auf unserer Reise durch Südengland nirgendwo auf Anzeichen von Brexit gestoßen sind. Keine Plakate, die die Entscheidung bejubeln oder verdammen. Keine “Ausländer raus!”-Parolen an Wände gesprüht. Niemand, der uns komisch gekommen ist. Alles war so wie immer in England, höflich und freundlich.

Auffallend waren lediglich die Vielzahl an Häusern, die zum Verkauf standen. Sind das Europäer, die bereits gegangen sind? Ich ertappe mich mehrfach bei dem Gedanken wie es wäre, eines dieser Häuser zu kaufen und dort zu leben. Doch ist das noch möglich als Deutsche, als Europäerin? Es muss schön sein, dort zu leben, alles macht einen so friedlichen Eindruck. Und es bleibt die Hoffnung, dass das auch so bleibt, nach dem Brexit.