Meine Oma hieß Elsbeth. Sie wurde im vorvorherigen Jahrhundert geboren, 1896. Leider habe ich sie nur wenige Jahre erlebt. Sie starb als ich zehn Jahre alt war. Die kurze Zeit, die ich mit ihr verbringen durfte, habe ich in liebevoller Erinnerung. Wie in ihrer Generation üblich, trug Oma Elsbeth meist Kittel und war in der Regel in der Küche anzutreffen. Immer war Oma Elsbeth gut gelaunt, hatte rosige Wangen und freute sich, mich zu sehen. Oft schaukelte sie mich auf ihren Knien und sang: “Trocken Brot macht Wangen rot”. Meine Oma hatte zwei Weltkriege erlebt, da war das mit dem trockenen Brot anscheinend ein Thema. Jedenfalls hat mir diese Zeit eine bleibende Vorliebe für trockenes, mehrere Tage altes Graubrot beschert.

Meine Oma hatte eine Kaktus. Einen großen, stacheligen. Er stand im Wohnzimmer auf der Fensterbank. Als meine Oma noch lebte, spielte dieser Kaktus in meinem Leben keine große Rolle. Er stand eben da, war fast halb so groß wie ich und piekste entsetzlich. So etwas beachten Kinder nicht unbedingt, beziehungsweise meiden jeglichen Kontakt.

Als meine Oma starb, erbte meine Mutter diesen Kaktus. Fortan stand er bei uns im Wohnzimmer. Etwa ein bis zwei Jahre nach dem Tod meiner Oma, sagte meine Mutter eines Abends zu mir: “So, heute Nacht darfst du mit mir aufbleiben, die ganze Nacht.” Ich war verblüfft, denn ich war gerade einmal elf oder zwölf Jahre alt, und das hieß: zeitig schlafen gehen, da am anderen Morgen Schule war. Ich fragte meine Mutter also, warum wir uns denn beide die Nacht um die Ohren schlagen würden? Sie antwortete: “Weil heute die ‘Königin der Nacht’ blühen wird.” Das war das erste Mal, dass ich den Namen ‘Königin der Nacht’ hörte. Ich fragte mich, wer denn wohl diese Königin sei? Das klang geheimnisvoll und märchenhaft. Und Königinnen haben natürlich für kleine Mädchen etwas Magisches und in unserer Vorstellung von unendlich großer Schönheit. Umso mehr verblüffte es mich also, als ich erfuhr, dass es sich bei diesen nächtlichen Königin um den alten, stacheligen Kaktus meiner Oma handelte.

 

Königin für eine Nacht

Wie mir meine Mutter dann erklärte, ist es ein durchaus seltenes Ereignis, dass diese Kakteen in unseren Breitengraden blühen. Sie selbst, sagte sie, habe diesen Kaktus seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr blühen sehen. Wenn sich diese seltene Ereignis ergibt und der Kaktus zum Blühen ansetzt, dann bringt er oftmals nur eine einzige Blüte hervor.

Zunächst sitzt über viele Wochen ein kleiner Wollpuschel an dem Kaktus. Ob dieser tatsächlich zur Blüte reift, zeigt sich erst, wenn sich unter seiner Wolle ein festes grünes Kleid abzeichnet. Wochenlang schiebt er dann aus diesem Kleid einen haarigen Stengel heraus, der länger und länger wird und sich schließlich an der Spitze verdickt. Sobald das geschieht, heißt es: aufgepasst! Denn dann dauert es tatsächlich nur noch wenige Tage, bis der Kaktus seine Blütenpracht entfaltet. Und das dauert vom Beginn bis zu Ende ziemlich genau 24 Stunden und passiert in der Regel nachts, weswegen dieser Kaktus den Namen ‘Königin der Nacht’ trägt. Tatsächlich ist die Blüte so etwas wie eine prächtig geschmückte Königin. Ihre Kleid ist champagnerfarben, der Stempel zartgelb. Zu den Blattspitzen hin laufen die Blütenblätter in zarten, fedrigen Spitzen aus. In dieser einzigen Nacht ihrer Blüte entfaltet die Königin der Nacht einen unbeschreiblichen Duft. Fein und doch intensiv, schwer und leicht zugleich.

Ich kann mich noch gut an diese Blüten-Nacht mit meiner Mutter erinnern. Meine Mutter hatte den Kaktus in mein Zimmer getragen, wo wir es uns auf dem Sofa gemütlich machten. Es gab Knabbereien und zur Feier des Tages (und vermutlich, weil ich wach bleiben sollte), gab es eine Cola. Wir redeten nicht viel, sondern beobachteten den Kaktus und jede seiner Regungen. Und tatsächlich, irgendwann gegen Mitternacht öffnete sich die Blüte. Immer weiter öffnete sich der weiße Kelch. Wie in Zeitlupe entfaltete sich Blatt für Blatt und der Stempel schob sich Stunde um Stunde weiter heraus. Ich war irgendwann wie benebelt von dem Duft, mit dem uns die Königin der Nacht berauschte. Und ich schlief auch irgendwann an der Schulter meiner Mutter ein. Als ich am Morgen erwachte, hatte stand die Königin noch in ihrer vollen Pracht da. Doch als ich aus der Schule kam, hatte sie bereits ihren Rückzug angetreten. So langsam wie sie sich entfaltet hatte, so langsam fiel die Blüte in sich zusammen und starb schließlich.

 

Wüstenklima Westerwald

Es war ein Ereignis meiner Kindheit, was ich nie vergessen habe und was ich nie wieder erlebte, weil der Kaktus nie wieder blühte. Als ich von zu Hause auszog, gab mir meine Muter einen Ableger von Oma Elsbeth’s Kaktus mit, das war quasi wie ein Familienmitglied, das gemeinsam mit mir auszog. Diesen Kaktus habe ich zu Ehren meiner Oma über 30 Jahre von Wohnung zu Wohnung mitgeschleppt. Er hat große und kleine WGs erlebt, hat mich von Niedersachsen nach Berlin begleitet, hat sonnige und schattige Wohnungen gesehen und hat Trockenzeiten und Regenzeiten überlebt. Nie hat er geblüht. Bis jetzt.

Seit ich hier im Westerwald lebe, blüht der Kaktus. Er blüht, als wollte er die vergangenen blütenlosen Jahrzehnte aufholen. Vielleicht hat der Westerwald ein Kakteenblüten begünstigendes Wüstenklima. Denn auch viele seiner Söhne, Töchter und Enkel blühen hier plötzlich. Über 40 Jahre habe ich darauf gewartet, dass der Kaktus wenigstens einmal wieder blüht. Jetzt bringt er Blüten über Blüten hervor, mehrere auf einmal und mehrmals im Jahr.

In unserem ersten Westerwald-Jahr war gerade ein Freund zu Besuch und wir abends auf einer Party eingeladen. Und dann das: Eine Kaktusblüte war kurz vor dem Aufbrechen! Zum ersten Mal seit 40 Jahren hatte es ein Enkel von Oma Elsbeth’s Kaktus bis zur Blütenreife gebracht. Ich war auf der Party so hibbelig, dass ich nicht bleiben konnte. Ich verließ das Fest frühzeitig und kam gerade zu Hause an, als die Blüte begann, sich zu entfalten.

 

Blütenprachten

Vergangenes Jahr wollten es Oma’s Kaktusnachfahren endgültig wissen. Nicht eine Blüte begann zu reifen, nicht zwei, nicht drei, nein sechs Blüten gleichzeitig schickten sich an zu blühen. Und damit nicht genug, Wochen später standen schon wieder zahlreiche Blüten in den Startlöchern. In einer Nacht im August hatten wir 25 (in Worten: fünfundzwanzig!!!) Blüten an verschiedenen Kakteen, de alle in der gleichen Nacht blühten. Es war unglaublich. Es war unglaublich schön.

Und auch in diesem Jahr hat es ein kleiner Ableger schon wieder geschafft zu blühen. Dieses Mal war es (bislang) nur eine Blüte. Sie war eine Erinnerung an die gemeinsamen Blütenerlebnisse mit Joachim in den vergangenen zwei Jahren. Joachim war jedes Mal mit mir aufgeregt über jede nächste Kaktusblüte gewesen. Und schließlich war die Geschichte von Oma Elsbeth’s Kaktus zu unserer gemeinsamen Kaktusblüten-Familiengeschichte geworden.

Jetzt ist sie wieder nur meine Geschichte.