Zehn

Zehn

Vor zehn Jahren, am 19. Juni 2013, sprach Barack Obama vor dem Brandenburger Tor. Ich war dabei, ganz stolz. Stolz war auch mein Mann Henry. Seine „Jattin“ bei Barack Obama, wow, er hatte sich so darüber gefreut. All die Devotionalien, die ich damals liebevoll für ihn eingesammelt und bei uns im Flur drapiert hatte, damit er sie nach seiner Geschäftsreise gleich sieht, wenn er heimkommt, konnte er sich nicht mehr ansehen. Von dieser Reise kehrte er nicht zurück.

Die Bilder von damals, die Gefühle, die Sorge, die Angst, die Panik, alle sind noch so präsent, als wäre es gerade erst passiert. Dabei ist es heute zehn Jahre her, dass mein geliebter Henry, zusammen mit seinem Vater und einem Freund auf der A9 bei Dessau in einem Auto verbrannte. Tot, weil ein anderer nicht aufpasste. Tot, weil ein Lkw-Fahrer die Kontrolle über seinen Wagen verlor. Die Brutalität dieses Todes erschüttert mich noch heute.

Manchmal frage ich mich, was Henry heute machen würde. Welche Filme hätte er noch gedreht? Hätte er sein ersehntes Nordkorea-Projekt vollenden können? Wäre die Dokumentation zu „Das unsichtbare Visier“ fertiggestellt worden? Das einzige von Armin Müller-Stahl jemals dazu gegebene Interview schlummert ungesendet in Henrys Archiv. Nie hatte sich der Weltstar bis dahin zu diesem in der DDR erfolgreichen Sujet geäußert. Es hieß, er wollte es nicht. Henry war es gelungen Armin Müller-Stahl zu überreden. Noch heute sehe ich, wie er strahlte, als ihm dieser Coup gelungen war. Begeistert und warmherzig erzählte er von diesem Treffen.

Begeistert und warmherzig, so war Henry, so ging er seine Projekte an. Mit seiner Begeisterung und seiner Warmherzigkeit, und mit seiner hohen Integrität, überzeugte er Menschen während seines Schaffens davon, mit ihm zu kooperieren, ihm Interviews zu geben, sich ihm zu öffnen. Begeisterung und Wärme, gepaart mit Witz und Finesse, das strahlten seine Filme aus. Manche rühren zu Tränen, andere sind spannend wie Krimis. Wer Henry kannte, entdeckt die Stellen, wo sein subtiler Humor aufblitzt.

Mein geliebter Henry, ich vermisse diesen Humor, ich vermisse deine Warmherzigkeit und deine Begeisterung. Ich vermisse dich. Heute genauso wie vor zehn Jahren. Heute genauso wie in 100 Jahren.

 

 

Henry Köhler, geliebter Mensch, Filmemacher, Regisseur
6 Jahre

6 Jahre

Heute vor sechs Jahren starb mein Mann. Henry. Wie ein tausendmal gesehener Film läuft dieser 20. Juni 2013 vor meinem inneren Auge ab. Der Tagesablauf ist jederzeit abrufbar, wie ein Film auf einer Streamingplattform.

Auch die Gefühle von diesem Tag sind immer noch da. Gerade, wenn ich das hier schreibe, habe ich einen dicken Knoten im Bauch, ein ziehendes Gefühl, das sich bis ins Rückenmark fortsetzt. Dieses Gefühl hatte ich auch damals, als ich noch gar nicht wusste, was passiert war, als ich noch nicht wusste, dass Henry auf der A1 verbrannt war als ein LKW ungebremst auf das Stauende zuraste, in dessen letztem Auto Henry saß.

Der Schmerz über den Verlust ist wie ein Echo. Erst ist er laut und klar, dann ebbt er ab wie die Stimme in einem Echo, wird unschärfer, leiser, bis er verklingt. Er schläft, wie auch das Echo schläft, und erwacht erst, wenn er wieder gerufen wird.

Vieles kann diesen Schmerz rufen. Manchmal tritt er ganz unvermittelt auf, gerufen durch eine Erinnerung, ein Foto oder einen Satz, den ich oder Henry irgendwann zueinander gesagt haben.

Täglich verlieren Menschen geliebte Menschen. Täglich nistet sich dieser Verlustschmerz in Menschen ein. Täglich lernen Menschen, mit diesem Schmerz zu leben. Denn es ist das einzige, was man gegen den Schmerz tun kann: Man kann lernen, mit ihm zu leben. Erst dann wird er erträglich.